AVIVA-Berlin >
Kunst + Kultur
AVIVA-BERLIN.de im November 2024 -
Beitrag vom 01.03.2017
Der Himmel wird warten. Ein Film von Marie-Castille Mention-Schaar. Kinostart: 23. März 2017
Hannah Hanemann
Auf "Die Schüler der Madame Anne" folgt dieser neue Film der französischen Regisseurin, der in eindringlichen Bildern die Radikalisierung zweier Schülerinnen thematisiert, die sich dem IS anschließen. Dafür wurde sie bereits bei den "Lumiére Awards" für den Preis für das beste Drehbuch nominiert.
Eine Gruppe von Menschen sitzt in einem Raum. Sie diskutieren unter der Leitung der französischen Anthropologin Dounia Bouzar. Es ist eine sehr spezielle Selbsthilfegruppe, die sich dort zusammen gefunden hat: alle Anwesenden haben Kinder, die sich radikalisiert und dem IS angeschlossen haben, manche von ihnen sind in Syrien und für die Eltern nicht mehr erreichbar. Mit dieser Szene, dieser Fokussierung auf das Leid der betroffenen Eltern, beginnt der eindrückliche und aufrüttelnde Film "Der Himmel wird warten".
Radikalisierung aus unterschiedlichen Perspektiven
Der Film portraitiert in zwei Handlungssträngen, die in entgegengesetzten Zeitlinien verlaufen, zwei französische Schülerinnen und ihre Familien: Auf der einen Seite ist da Mélanie, die aus Verliebtheit zu einem Mann, den sie im Internet kennen lernt, ihr Leben auf drastische Weise umkrempelt und sich emotional immer mehr von ihrem Umfeld entfernt. Sie vollzieht eine fundamentale Wandlung vom sensiblen Mädchen, das allseits beliebt ist und eine enge Beziehung zu ihrer Mutter hat, hin zur Burka tragenden Islamistin, die bereit ist, für ihre (vermeintlichen) Überzeugungen in den Tod zu gehen - und andere mit sich zu reißen.
Ihre Geschichte ist exemplarisch für die vieler Mädchen, die der westlichen Welt den Rücken kehren und sich vom IS rekrutieren lassen. Ihr Mutter Sylvie, eindrücklich gespielt von Clotilde Courau, wird durch die Radikalisierung ihrer Tochter in tiefe Verzweiflung gestürzt. Schließlich leitet sie Schritte ein, um Mélanie in Syrien auf eigene Faust zu suchen.
Im Gegensatz zu Mélanie ist Sonia zu Beginn des Films bereits indoktriniert. Sie hat versucht, das Land zu verlassen, um dem IS "zu dienen" und ist nur durch einen Zufall daran gehindert worden. Die Gründe für ihre Radikalisierung werden nicht genauer erläutert, aber ihr Zustand ähnelt dem einer Psychose. Sie hört Stimmen, ist paranoid und davon überzeugt, dass die Errichtung eines "Islamischen Staates" der einzige Weg ist, sie und ihre Familie "vor der Hölle zu retten". Umso beeindruckender ist der Prozess, in dem sie durch die geduldige Liebe ihrer Eltern, besonders ihrer Mutter Catherine, gespielt von Sandrine Bonnaire, langsam wieder ins Leben zurück findet und ihre Ängste besiegen lernt.
Es macht die Faszination und Authentizität des Films aus, dass er die Thematik der Radikalisierung von zwei unterschiedlichen Perspektiven aus beleuchtet: zum einen zeigt er einen möglichen Verlauf der Indoktrinierung und zum anderen die Möglichkeit, sich aus dieser wieder zu lösen.
Sensibler Einblick in ein schwer verständliches Phänomen
In nicht-chronologischen Sequenzen inszeniert die Regisseurin die Verwandlungen ihrer Protagonistinnen, ohne zu urteilen oder eine absolute Wahrheit liefern zu wollen. Stattdessen fühlt sie sich empathisch in Sonia und Mélanie ein und versucht, den ZuschauerInnen deren Beweggründe, Wünsche und Hoffnungen verständlich zu machen.
Es sei nicht nur die Pubertät, erklärt Dounia Bouzar den Eltern, die sie berät, die zur Radikalisierung junger Menschen führe. Die Gründe seien viel tiefgehender. Verunsicherung und Unzufriedenheit mit dem modernen Leben, Überforderung durch sexuelle Freiheit, Technik und Konsum, ein Gefühl der Leere und der Verlorenheit , trieben die Mädchen in die Arme der Terroristen, die ihnen vor allem eines zu liefern scheinen: einen Sinn.
Doch "Der Himmel wird warten" ist nicht nur Gesellschaftskritik und Dokumentation eines verstörenden Phänomens, sondern enthält auch hoffnungsvolle Töne und zeigt am Beispiel Sonias, dass der emotionalen Abgestumpftheit und dem Hass mit Menschlichkeit und Liebe entgegen gewirkt werden kann.
"Wir müssen uns fürchten", sagt Dounia Bouzar. "Wir müssen uns fürchten - aber nicht zuviel."
Es ist Marie-Castille Mention-Schaar besonders gut gelungen, ihre Protagonistinnen nicht als eindimensionale Monster, sondern auch als die sensiblen und idealistischen Mädchen darzustellen, die sie sind.
Die Zuschauerin weiß um ihre extremistische Gewaltbereitschaft - aber zugleich kann sie nicht umhin, mit ihnen zu sympathisieren und auf Grund ihrer inneren Zerrissenheit Mitleid mit ihnen zu empfinden.
Dabei ist es nicht zu letzt der starken Darbietung der Hauptdarstellerinnen Noémie Merlant und Naomi Amarger zu verdanken, dass "Der Himmel wird warten" ein so eindringliches und bewegendes Kino-Erlebnis ist.
AVIVA-Tipp: "Der Himmel wird warten" ist besonders authentisch durch die dokumentarhaft angelegte Erzählstruktur und hat zugleich die emotionale Kraft eines Spielfilms. In teils beklemmenden, teils poetischen und manchmal sogar hoffnungsvollen Bildern erzählt er von der Macht der Indoktrinierung, aber auch von der Möglichkeit auf Veränderung.
Zur Regisseurin: Marie-Castille Mention-Schaar ist Produzentin, Drehbuchautorin und Regisseurin. Sie war in der Drehbuchentwicklung bei Columbia Pictures und als internationale Chefredakteurin des Hollywood Reporter in Los Angeles tätig.Von 1994 bis 1998 arbeitete sie als Produzentin bei Trinacra und gründete 1998 zusammen mit Pierre Kubel die Produktionsfirma "LomaNasha Films" und 2001 die Produktionsfirma "Vendredi Film". Zusammen haben sie insgesamt bereits 12 Spielfilme produziert. 2010 führte Marie-CastilleMention-Schaar zum ersten Mal selbst Regie. Der Film "Meine erste Liebe", zu dem sie auch das Drehbuch schrieb, wurde von "LomaNasha Films" produziert. Ihr zweiter Spielfilm "Willkommen in der Bretagne" (2012), eine Komödie über die französische Protestkultur, wurde von "Pathé" koproduziert. Bei ihrem letzten Film "Die Schüler der Madame Anne"(2014), in dem eine engagierte Lehrerin eine Gruppe unmotivierter Schüler*innen durch ein Geschichtsprojekt über Kinder- und Jugendliche in Konzentrationslagern zusammenbringt, war sie neben der Regiearbeit federführend an der Produktion und dem Drehbuch beteiligt. Marie-Castille Mention-Schaar ist Gründerin des Vereins "Cercle Féminin du Cinéma Français", der zum Ziel hat, Frauen in Filmberufen zu stärken und zusammenzubringen.
Mehr Infos: www.imdb.com
Zu den Hauptdarstellerinnen: Noémie Merlant begeisterte sich schon früh für Musik und Tanz und begann ihre Karriere als Model. Zwischen 2007 und 2011 ließ sie sich zur Schauspielerin am Cours Florent ausbilden. Ihren ersten Auftritt in einem Kinofilm hatte sie 2011 in "La Permission de minuit" von Delphine Gleize. Im folgenden Jahr übernahm sie die Hauptrolle im Film "L´Orphelineavec en plus unbras en moins" unter der Regie von Jacques Richard. 2014 war sie in dem Film "Die Schüler der Madame Anne" von Marie-Castille Mention-Schaar in der Rolle der Mélanie zu sehen, zusammen mit ihrer Schauspielkollegin Naomi Amarger, die in "Die Schüler der Madame Anne" ihr schauspielerisches Debüt feierte und 2016 mit "À tous les vents du ciel" und "Der Himmel wird warten" auf die Leinwand zurück kehrte. Beide Schauspielerinnen waren 2017 für ihre Rollen in "Der Himmel wird warten" bei den französischen Lumiére Awards für den Preis der besten Nachwuchsdarstellerin nominiert.
Mehr Infos: twitter.com/noemiemerlanttwitter.com/naomiamarger
Dounia Bouzar ist eine französische Anthropologin, die in Paris ein Zentrum zur Prävention der islamistischen Radikalisierung (Centre de prévention contre les dérives sectaires liées à l´islam) gegründet hat, in dem sich Jugendliche und ihre Angehörigen beraten lassen können.
Ein Interview zur Thematik mit Dounia Bouzar finden Sie unter:
www.info.arte.tv
Der Himmel wird warten
Originaltitel: Le Cielattendra
Spielfilm, Frankreich 2016
Regie: Marie-CastilleMention-Schaar
Drehbuch: Emilie Frèche, Marie-CastilleMention-Schaar
Kamera: Myriam Vinocour
Schnitt: Benoît Quinon
DarstellerInnen: Noémie Merlant, Naomi Amarger, Sandrine Bonnaire, Clotilde Courau, ZinedineSoualem, Yvan Attal, Dounia Bouzar, Ariane Ascaride
Verleih: Neue Visionen
Lauflänge: 105 Minuten
Kinostart: 23.03.2017
Weitere Informationen zum Film und den Trailer finden Sie unter:
www.der-himmel-wird-warten.de
www.facebook.com/derhimmelwirdwarten
www.imdb.com
www.youtube.com
Beratungsstellen zu Radikalisierung und Islamismus:
www.bamf.de
hayat-deutschland.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Lamya Kaddor - Zum Töten bereit. Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen
Die Religionspädagogin, Islamwissenschaftlerin und Autorin unterrichtet in Dinslaken muslimische Schüler_innen in Islamkunde. In ihrem Buch beschreibt sie, wie Salafisten gezielt Jugendliche aus Deutschland als Soldat_innen für den Dschihad anwerben. Fünf ihrer ehemaligen Schüler_innen gingen nach Syrien. Worin liegt die Faszination? Warum haben die "Verführer" so oft Erfolg? (2016)
Gila Lustiger - Erschütterung. Über den Terror
Leider wieder hochaktuell ist Gila Lustigers wegweisendes Essay über den Terror in Frankreich. Erst im Juni 2016 wurde die in Paris lebende deutsch-jüdische Autorin für ihr "widerständiges Erzählen im Sinne von Freiheit und Humanität" mit dem Jakob-Wassermann-Literaturpreis der Stadt Fürth ausgezeichnet. (2016)
Kriegerin - ein Film von David Wnendt mit Alina Levshin und Jella Haase
Ein kompromissloses, differenziertes und schmerzliches Sozialdrama, angesiedelt in der Neonazi-Szene, bei dem sich die Grenze von Fiktion und gegenwärtiger Realität bestürzend aufzulösen scheint. (2012)
Bräute des Nichts – Der weibliche Terror
Im Rahmen der Recherchen für die Performance "Bräute des Nichts" entstand dieses historische Essay Jutta Brückners, in dem sie zwei vollkommen unterschiedliche Biographien zusammenbringt. (2008)